Die neue menschliche Umwelt

Klima, Corona, kriegerische Konflikte und Hunger: «Multilateralismus as usual» wird nicht reichen, wenn wir diese Krisen in den Griff bekommen wollen. 

Bislang ist die Jubiläumskonferenz Stockholm+50 im Juni 2022 in klassischer UN-Manier geplant: Das multi-laterale System solle seine wichtige Rolle in der Bekämpfung der dreifachen Klima-, Natur- und Verschmutzungskrise darstellen und ein «Booster» sein für die Beschleunigung der Implementierung der seit vielen Jahren beschlossenen ambitionierten Nachhaltigkeitsziele. Der brutale Krieg in der Ukraine, die neuen geopolitischen Unsicherheiten und die beginnende Krise der Welternährung stellen diese Konferenz nun in ein verändertes politisches Umfeld. Dabei war schon lange vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine klar, dass die international vereinbarten Nachhaltigkeitsziele bei diesem Tempo der Implementierung nicht erreicht werden können – die sich überlagernden (Umwelt-)Krisen waren alles andere als gestoppt.

Durch den Krieg in der Ukraine könnte eine weltweite Lebensmittelkrise unbekannten Ausmaßes ausgelöst werden. Der globale Lebensmittelpreisindex der FAO steht auf einem Rekordniveau, dem Welternährungsprogramm gehen Geld und Lebensmittel für humanitäre Hilfe aus. Die Ernährungssicherheit vulnerabler Menschen hat sich schon heute drastisch verschlechtert. Durch den Krieg entfallen 33 Millionen Tonnen Weizenexporte aus Russland und 20 Millionen aus der Ukraine, zusammen circa 25 Prozent der globalen Weizenexporte. Ägypten zum Beispiel importiert jährlich circa 13 Millionen Tonnen Weizen aus den beiden Ländern. Woher kommt Ersatz, und wie wird die Versorgung sichergestellt? Hinzu kommt: Das System der Welternährung ist bisher auf dem massiven Gebrauch von Düngemitteln aufgebaut – und Russland war einer der Hauptlieferanten.

Was bedeutet diese neue Lage und insbesondere die drohende Ernährungskrise für Stockholm+50? Mit dem zentralen Begriff der Konferenz von 1972, dem «Human Environment», sollen der geopolitische Rahmen und die Lage der natürlichen Umwelt im Jahr 2022 kurz beschrieben werden. Dabei ist darauf zu achten, dass «menschliche Umwelt» nicht nur aus Sicht der Industrieländer und des Kriegs in der Ukraine zu fassen ist. Erinnern wir uns: Die wesentliche Debatte in der Vorbereitung der Konferenz 1972 drehte sich um die Frage, ob es sich um eine Umwelt- oder eine Entwicklungskonferenz handeln sollte und inwieweit Umweltpolitik als ein Anliegen der industrialisierten Länder die Länder des globalen Südens in ihrer Entwicklung hindern würde. Der Begriff «menschliche Umwelt» war die Klammer, mit der Umwelt und Entwicklung verbunden werden sollten. Dies muss auch im Jahr 2022 (wieder) sichergestellt werden.

Die geopolitische Unübersichtlichkeit im Jahr 2022

Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die internationale Ordnung sind bisher nur in Ansätzen erkennbar. Der mit den Stimmen von 141 Mitgliedstaaten der UN gefasste Beschluss zur Verurteilung des russischen Angriffs kann nur als ein erstes Lagebild verstanden werden. Die 35 Enthaltungen (darunter Indien, China, Pakistan, Südafrika, Vietnam) und die 11 Stimmen von Mitgliedstaaten, die der Abstimmung fernblieben, müssen mit in Betracht gezogen werden. Bei einer Addition der Zahl der repräsentierten Menschen hat die Mehrheit den russischen Angriff nicht verurteilt. Ist dies ein erstes Vorzeichen für die Veränderung der globalen (Nachhaltigkeits-)Governance?

1972 wurde politisch von der sogenannten Blockkonfrontation zwischen dem «Westen» und dem «Osten» sowie der Nord-Süd-Debatte und der Frage Umwelt versus Entwicklung dominiert. Heute, über 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, haben wir es immer noch mit dem Herausbildungsprozess einer multipolaren Welt, neuen geopolitischen Risiken und Unwägbarkeiten zu tun. Und seit dem 24. Februar wieder mit einem Krieg in Europa, dessen weiterer Verlauf beim Abfassen dieser Betrachtung nicht absehbar ist. Die offene Drohung Russlands, Atomwaffen einzusetzen, und die entsetzlichen Verbrechen in der Ukraine kennzeichnen eine neue «menschliche Umwelt».

«Der globale Norden muss vorbereitet sein, seine Getreidevorräte mit den Hungernden zu teilen.»

Die durch den Krieg erfolgte teilweise Unterbrechung der globalen Handelswege insbesondere für Lebensmittel und die mögliche krisenhafte Zuspitzung der Welternährungslage drohen zu einem Lackmustest für das globale System zu werden. Die Frage ist, wie und von wem diese Krise gemanagt werden soll. Es darf an dieser Stelle auch nicht vergessen werden, dass der reiche globale Norden die Länder des Südens in der immer noch andauernden Coronapandemie nicht ausreichend mit Impfstoffen unterstützt hat. Dies muss doch im globalen Süden zu der Erkenntnis geführt haben, dass die «Eine-Welt-Rhetorik» im Krisenfall nicht der Realität entspricht. Wird es jetzt bei der Ernährungskrise eine ähnliche Lage geben?

Die Frage nach der adäquaten globalen Governance stellt sich aber noch viel grundsätzlicher: Ist das heutige multilaterale System unter diesen Bedingungen in der Lage, die kombinierte Krise aus Klima, Corona, kriegerischen Konflikten und Armut ernsthaft anzugehen? «Multilateralismus as usual» während Stockholm+50 könnte verheerende Auswirkungen haben. Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es bedarf für die Bewältigung der vielfältigen globalen Herausforderungen der internationalen Kooperation. Das UN-System wurde genau zu dem Zweck gegründet, Aufgaben, für deren Erledigung einzelne Staaten zu klein sind – und seien diese Staaten auch noch so groß – durch gezielte Kooperation und Interessensausgleich anzugehen und damit einen Mehrwert für alle zu schaffen. Aber der bloße Verweis auf diese Notwendigkeit von Veränderungen ist schon seit langem nicht mehr ausreichend. Das multilaterale System hat unter Beweis gestellt, dass es möglich ist, Mitgliedstaaten, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und zunehmend Wirtschaft in internationalen Verhandlungen zu einer gemeinsamen Problemanalyse und zu langfristigen globalen Zielbeschreibungen zusammenzuführen. Aber die «Achillesferse» dieses Systems ist die viel zu langsame oder gar ausbleibende Implementierung der Beschlüsse durch die Vertragsparteien und die sonstigen Stakeholder. Probleme wurden erkannt und beschrieben, aber in der Realität nicht gelöst.

An den Beschlüssen und wissenschaftlichen Analysen der Probleme hat es also nicht gelegen. Vielmehr wurde den Bedingungen der Umsetzung zu wenig Beachtung geschenkt. Wie kann Entwicklung – nicht nur im globalen Süden, sondern auch eine veränderte wirtschaftliche Entwicklung im Norden – zur Lösung von globalen Umweltproblemen führen? Wie können politische Mehrheiten in demokratischen Gesellschaften zur Umsetzung der vereinbarten Ziele erreicht werden? Es ist nicht trivial, demokratische Mehrheiten für – oftmals tiefgreifende – Transformationen zu gewinnen und auf Dauer sicherzustellen. Und die festgefügten ökonomischen Rahmenbedingungen mit ihrer Profitlogik und das auf Wachstum ausgerichtete System wurden weitgehend außer Acht gelassen. Es war und ist weiterhin möglich, durch das Externalisieren von Umwelt- und Sozialkosten private Profite einzufahren.

Nun steht aktuell die Frage im Raum, wie in den nächsten Jahren eine ausreichende Ernte unter den Bedingungen eines gestörten Welthandelssystems gesichert werden kann. Und wie gleichzeitig die notwendige Transformation des globalen Ernährungssystems eingeleitet werden kann. Der wissenschaftliche Befund ist eindeutig: Das jetzige System ist wesentlich für die Zerstörung der menschlichen Umwelt verantwortlich, ohne alle Menschen gesund zu ernähren. Aber ist das UN-System unter den neuen geopolitischen Bedingungen handlungsfähig genug, um eine globale Krise abzuwenden? Oder müssen spätestens jetzt die Industrieländer das Verwenden Hunderter von Millionen Tonnen Getreide für die industrielle Tiermast und für Agrartreibstoffe beenden?

Zugegebenermaßen ist die weitere Entwicklung der Welternährung unklar. Aber es gibt genügend Anzeichen, dass es zu einer schweren Störung der globalen Lieferketten kommen kann. Stockholm+50 muss sich dieser Aufgabe stellen! Es gibt hier zwei Alternativen: Entweder kann das multilaterale System in einem Kraftakt die Hungerkrise abwenden, oder die G7 müssen gemeinsam mit den akut vom Hunger bedrohten Ländern eine neue Allianz zur Bekämpfung des Hungers gründen. Ohne eine wirkungsvolle Initiative zur Lösung der drohenden Hungerkrise wird nicht nur die Glaubwürdigkeit des Nordens weiter geschwächt. Der globale Norden muss jetzt vorbereitet sein, im Falle einer Disruption der Lebensmittelversorgung seine Getreidevorräte mit den Hungernden zu teilen! Das Drama der nicht geteilten Impfstoffe darf sich nicht wiederholen. Eine solche Aktion kann auch einen Neustart in der gemeinsamen Implementierung der erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas unterstützen.


Alexander Müller, Diplom-Soziologe, ist Leiter einer globalen Studie des UN-Umweltprogramms «The Economics of Ecosystems and Biodiversity for Agriculture and Food» und Geschäftsführer von TMG – Töpfer, Müller, Gaßner GmbH, Think Tank for Sustainability.

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